Ein Kommentar zu den Schweizer Wohntagen 2022.
Klingt eigentlich noch schön: Gesucht werden so Orte, an denen sich “eine Vielfalt an Menschen, Generationen und sozialen Gruppen” begegnen. Wie das möglich werden soll, darüber unterhielt sich eine illustre Gesellschaft an den “Schweizer Wohntagen 2022”. (Übrigens: Die Tagung fand in Räumlichkeiten einer Freikirche statt, lol)
Wie ihr euch vorstellen könnt, habe ich ein paar Fragezeichen mit nach Hause genommen. An der Tagung zu ‘inklusiven Quartieren’ ging es vor allem um Themen wie Nachbarschaften, Siedlungsleben, kooperative Planung – aber viel zu wenig um die explodierenden Wohnkosten und die Frage, wer sich denn unsere Städte noch leisten kann. Doch wie können wir über ‘Inklusion’ reden, wenn wir nicht die aktuellen Verdrängungsprozesse ansprechen?
«Gemeinschaft» vs. «Inklusion»
- Bei der Präsentation zur Industriestrasse Luzern wurde eine genossenschaftliche Planung vorgestellt. Aber auf die Nachfrage, inwiefern sich denn Genossenschaften zur Fragen der Gentrifizierung positionieren, kam eine ausweichende Antwort: Man stelle sich den unangenehmen Fragen und man richte sich an Menschen, die eine Veränderung WOLLEN.
Dieses geläufige Argument finde ich – mit Verlaub – ein bisschen zynisch. Wer wünscht sich schon nicht eine top ausgestattete Wohnung mit Aussicht und Gartenzugang und Gemeinschaftsraum und Waschsalon und Mobilitätskonzept – aber was nützt mir das, wenn ich die Miete dieser Wohnung nicht zahlen kann? Statt uns nur zu fragen, wer Veränderung WILL, sollten wir auch die Frage stellen: Wer kann sich Veränderung LEISTEN?
Versteht mich bitte nicht falsch: Gemeinschaftliche Wohnprojekte finde ich mega wichtig! Ja, es geht ums Gemeinschaftliche, und das darf, ja das muss in unserer hyper-individualisierten Gesellschaft wieder einen wichtigen Platz erhalten. Doch Gemeinschaften beruhen halt oft auch auf sozialer Nähe, es finden sich schneller Menschen zusammen, welche sich ähnlich fühlen und irgendwie gut verstehen. Aber vielleicht könnten wir genau da auch weiter denken – wie würde z.B. eine Genossenschaft für Pfleger*innen, Schichtarbeiter*innen, Kurd*innen, Tamil*innen, für Eigenbrötler*innen … möglich werden?
Profitable Top-Down-Nachbarschaft
- Am Beispiel der Siedlung Reitmen in Schlieren wurde eine private Entwicklung vorgestellt. Die Pensimo wollte hier wirklich alles richtig machen. Sie erzählten, wie wichtig Nachbarschaft ist, soziale Durchmischung (durch ‘guten Wohnungsmix’) Kommunikation / Partizipation (durch einen Siedlungscoach mit dem Aneignung ‘ausgehandelt’ werden kann), auch der Kontakt zur Mieterschaft (durch ein Hauswartbüro vor Ort und eine MieterApp – und nein, gendern ist nicht so in bei der Pensimo).
Böh, wie es den Bewohner*innen in einer so top-down organisierten Sozialumgebung wohl geht? Die kritischen Fragen aus dem Publikum liessen jedenfalls nicht lange auf sich warten: Es werde hier ein Projekt vorgestellt, das auf einer Brache entstand. Es wurde ‘nur’ ein Autohändler verdrängt. Das solle nicht darüber hinwegtäuschen, dass gerade in zentralen Lagen im Namen der Rendite bezahlbarer Wohnraum abgerissen und Bewohner*innen verdrängt werden. Zudem scheine hier ein präsentables ‘Leuchtturmprojekt’ vorgestellt worden zu sein – doch es gäbe (von Pensimo und anderen Investor*innen) noch viele schlechte Beispiele.
Die Fragerunde gipfelte dann in einer lustigen Aussage des Pensimo-Vortragenden, der (sinngemäss) sagte: Also sie würden sich schon wünschen, dass die Mieter*innen eben auch mal mitmachen und sich wehren würden, indem sie sich einfach mal weigern würden, eine schäbige Wohnung für 3000 Franken zu mieten! Kopfschütteln im Saal. Da hat jemand leider noch nicht verstanden, dass Wohnen kein Konsumgut, sondern eine Existenzgrundlage ist, zu der es keine Alternative gibt. Wir WOLLEN diese Preise nicht bezahlen, wir MÜSSEN.
Und an dieser Stelle eine Bitte an alle Immobilien-Investor*innen, welche Vorträge halten: Bitte beginnt eure Präsentation nicht JEDES Mal mit einer leicht beleidigten Bemerkung dazu, dass ihr hier ja die ‘Bu-Männer’ seid. Alle Menschen und Organisationen, welche eine solche Macht über so viele Menschen halten, dürfen und SOLLEN hinterfragt und kritisiert werden! Das auszuhalten gehört zu eurem Job, für den ihr auch echt viel Geld verdient.
Gopf.
Wohnungsnot betrifft viele
Und noch ein letzter Punkt: Die Moderation tat eine Frage nach den Verdrängungsprozessen ab als Randphänomen, indem sie sagte, dass natürlich auch ganz wichtig sei, die Menschen am ‘untersten Rand der Gesellschaft’ mitzudenken… An alle, die das Problem ähnlich marginal einschätzen, hier nochmals klar und deutlich: Das Thema betrifft (zumindest in den grösseren Städten) wirklich viele. Gerade und besonders auch diejenigen, welche in der Grundversorgung arbeiten – die zum Beispiel eure Strasse putzen, eure Kinder betreuen, eure Eltern pflegen, eure Lädelis in ausbeuterischen Franchise-Modellen betreiben, euch das Essen produzieren und ausliefern… Haha und übrigens auch die, welche eure Häuser bauen und Möbel schreinern und putzen und Hauswartung machen – also ohne die eure Häuser (aka Kapitalanlagen) gar nicht bestehen würden. Lustig, lustig.
Übrigens war nicht nur ich bitzli hässig. Bei einer digitalen Umfrage zu den aktuellen Hürden gegen eine inklusive Entwicklung standen als meistgenannte Wörter im Zentrum der Wortwolke: «Kapitalismus» und «Profit».
Vielleicht lohnt sich ja ein Blick über den Röstigraben nach Lausanne oder Meyrin. Die Vortragenden redeten in ihrer Präsentation von einem weitergehenden Verständnis von Inklusion. Ich konnte mich nicht mehr mit den Präsentierenden austauschen, denn ich musste wieder weiter. (Familiäre Care Arbeit hat gerufen und danach musste ich ja auch die 200.- Stutz Konferenzkosten plus 50.- Reisekosten irgendwie wieder irgendwo reinbringen…)
Also, ich nehme mit:
- Veränderung muss man sich leisten können.
- Gemeinschaft und Diversität sind keine Kulisse, um das schlechte Gewissen zu beruhigen oder daraus Profit zu schlagen.
- Die Wohnungsnot betrifft nicht nur ‹Randgruppen›, sondern viele, die unsere Grundversorgung stemmen.
- Und wenn wir über ‘Inklusion’ reden wollen, müssen wir über Dinge reden, die weh tun. Wie zum Beispiel den Ausverkauf unserer Städte.
Gopf.
Wir können das doch besser hinkriegen.
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