Liebe Stadt-Aktivist*innen und alle, die es noch werden möchten,
kürzlich ist in Berlin etwas Wegweisendes passiert: Die Bewegung “Deutsche Wohnen & Co enteignen”, ja, die Leute in lila Westen, haben es geschafft, eine unglaubliche Abstimmung zu gewinnen. Sehr grosse private Wohnungsunternehmen sollen enteignet und vergesellschaftlicht werden. Dafür wurden über ein Drittel Million Unterschriften gesammelt und für den “Volksentscheid” mobilisiert (ähnlich wie die Schweizer Volksabstimmung), welcher 2021 mit einer Mehrheit von fast 60% angenommen wurde.
Wie haben sie das als Graswurzel-Bewegung geschafft? Im Februar kamen ein paar Kernaktive nach Basel, eingeladen von der Klimagerechtigkeitsinitiative Basel 2030 (www.basel2030.ch) für einen Workshop. Auch ich durfte mit ein paar Freund*innen dabei sein. Wir haben dabei so viel gelernt, das wir euch hier zusammenfassen möchten. Und ja, jetzt wird es richtig Organisations-nerdig 🙂
Eure Mieten-Marta
Was ist eine gute Strategie?
- Struktur aufbauen: mit Leuten mit Erfahrung, bereits Politisierte (z.B. von “Wo Wohnen”, Linkswählende, persönliche Kontakte etc.)
- breit mobilisieren: durch Unterschriftensammeln und Haustürgespräche; für die heisse Unterschriften-Sammel-Phase müssen 4-5 Mt. einberechnet werden!
Tipps fürs Unterschriften sammeln?
- Eine Mischung aus Chaos und Organisation: grössere Sammel-Aktionen wurden durch die Kiezteams organisiert, Menschen konnten sich aber auch einfach Materialien schnappen und selbst losziehen.
- Berichte und Fotos von schönen Aktionen wurden in einen gemeinsamen Chat gepostet. Das hat motiviert.
- Themen-Wochen funktionieren fast immer. Zum Beispiel ‘Woche der Grosssiedlungen’, ‘Woche der Aussenbezirke’ etc. Das Thema ist fast egal, aber es hilft, die Bewegung zu fokussieren.
- ‘Blitz’: eine kurze, konzentrierte Aktion, bei der bei einer Siedlung/in einem bestimmten Gebiet gezielt geklingelt wird, um Leute zu finden, die sich den lokalen Kiezteams anschliessen.
- Jede Aktion ist auch gleich ein Training. Zu Aktionen können gezielt Neue eingeladen werden. Dabei bewährte sich folgender Ablauf:
- in der Gruppe 1 x trocken ein Gespräch üben
- dann erste Gespräche an den Haustüren machen
- zusammen auswerten
- und danach bei sich zuhause probieren usw.
- Bei jedem Gespräch zuerst fragen, ob die Person unterschreibt und dann noch anfügen: “kommst du in Zukunft auch mit zum Sammeln?” (Das braucht Mut, bringt aber sehr viel.)
- Niemand “weiss wie es geht”. Es entwickeln sich immer auch neue Praktiken.
“Es geht nicht nur um die Zahl gesammelter Unterschriften. Jede Aktion ist auch ein gutes Training für Neue und eine Möglichkeit, neue Kontakte für die Bewegung zu finden.”
Wie machen wir überzeugende Haustürgespräche?
Das wichtigste Format der Bewegung waren Haustürgespräche. Diese lassen sich besonders gut nach dem klassischen Organizing-Aufbau führen:
- Wut / Sorgen Raum geben: persönliche Betroffenheit, warum betrifft es mich (also die befragte Person)? Sich die Situation des Gegenübers anhören >> dieser Teil nimmt 70% des Gesprächs ein!
- Hoffnung säeen >> prägnante Sätze dafür, was unser Plan ist; möglichst konkret!
- Aktion vorschlagen und verabreden >> Eine nächste Handlung abmachen, auch wenn sie unspektakulär ist (z.B. Unterschreiben, Kontakt geben, sich einer Kiezgruppe anschliessen, selber sammeln gehen, …). Je besser das Gespräch gelaufen ist, desto weiter kann mensch bei diesem Schritt gehen.
Tipp: Es ist mega wichtig, dass die Botschaft (Schritt 1) klar ist. Das ist schwieriger als es klingt! Darum am besten ein paar Mal zusammen üben.
Tipp: Das Vokabular sorgfältig überlegen. Eher mit Begriffen wie “bezahlbare Mieten” agieren als gleich mit “enteignen” anzufangen. Begriffe besetzen, mit denen sich Gegenüber identifizieren können (z.B. “es ist doch vernünftig…”). Gut ist auch von einem “geordneten Übergang” zu sprechen, damit es eben nicht chaotisch wird.
Achtung: am besten ist es, Haustürgespräche zu zweit zu machen und darauf zu achten, dass TINFA-Personen nicht alleine gehen.
“Unsere Kernbotschaft war: Wenn Du und ich in dieser Stadt in 5-10 Jahre noch einen Platz haben wollen, dann müssen wir jetzt aktiv werden.“
Was ist ein Beispiel für ein Haustürgespräch?
Einstieg / Türöffner:
- Ich bin XY von der Kiezgruppe ZZ. Ich bin hier, weil ich sehe dass die Mieten in dieser Stadt so steigen, dass du und ich in 5-10 Jahren keinen Platz mehr hier haben werden.
- Ich bin XY, wir sind die von den Türhängern / Plakaten an Ihrer Haustür!
Offene Fragen:
- Wie geht es Ihnen damit? (Achtung! Das Gegenüber hier reden lassen! Wenn sowas kommt wie “Betrifft mich nicht”, dann in die historische Perspektive wechseln: Wie hat sich das in den letzten Jahren entwickelt?)
- Möglicher Übergang zum nächsten Teil: “Was Sie sagen, sagen viele. Darum…”
Unser Plan:
- (in möglichst nicht mehr als 3 Kernbotschaften erklären, worum es einem jetzt geht)
Entscheidung:
- (am besten als entweder-oder Frage formulieren)
Verabredung:
- Stimmen Sie am [Datum] mit Ja?
- (falls mit nein/weiss nicht antwortet: warum nicht? darf ich Ihnen Informationsmaterial hier lassen/schicken?)
- (falls mit ja, möglichst konkrete weitere Aktionsmöglichkeiten: 300 m von hier gibt es eine Lokalgruppe – wollen Sie sich dieser anschliessen?)
- “Damit wir erfolgreich werden können, brauchen wir möglichst viele Menschen. Möchtest du auch andere überzeugen?”
“Am Schluss sagen wir nicht ‘danke’, denn sie tun es nicht uns zuliebe, sondern für sich. Wir sind überzeugt von unserem Kampf und sie sind jetzt Teil davon.”
Tipp: wiedererkennbare Kommunikationsmittel
- ‘Türhänger’ 3 Tage vor einer Aktion bei den Häusern montieren; dann kann man am Aktionstag kommen und sagen “Wir sind die von den Türhängern!”
- Flyer, Wahlzeitung
- lila Westen 🙂
- …
“Wir haben keinen Flyer gemacht, sondern eine Wahlzeitung. Die sprach viel stärker an als ein Flyer und verteilte sich im Nu…”
Wie viel Zeit sollen wir einplanen?
Die Kampagne von DWE brauchte viel Zeit:
>> 2016 entstand die erste Idee für eine Kampagne
>> 2018 war der Beschlusstext für eine Initiative erarbeitet. Es dauerte Zeit, den Gedanken einer Vergesellschaftzung zu normalisieren, gerade auch bei bereits bestehenden Mietinitiativen.
>> ab 2019 wurden Unterschriften für die erste Stufe gesammelt. Dabei kamen 77’000 Unterschriften zusammene. Daraufhin liess sich die Stadt ein Jahr Zeit mit der Prüfung.
>> ab 2021 wurden Unterschriften für die zweite Stufe gesammelt. Es kamen 360’000 (statt nur der benötigten 170’000) zusammen.
“Wir sammelten nicht nur die nötigen Unterschriften, sondern so viele wir konnten!”
Wie können Nicht-Wahlberechtigte einbezogen werden?
Angefangen hat die Bewegung grösstenteils in deutschsprachigen Gruppen. Mit der Zeit jedoch entstand eine englischsprachige AG “Right to the City” für Nicht-Wahlberechtigte. Diese war für die Kampagne sehr wichtig und ist bis heute die grösste AG der Bewegung!
“Wir haben bewusst auch Unterschriften von Nicht-Wahlberechtigten gesammelt. Obwohl diese nicht offiziell zählen, erschienen diese im Zwischenbericht der Senatsverwaltung. Aber noch wichtiger ist die selbstorganisierte Struktur, die damit entstanden ist.”
Keine Angst vor Strukturen!
DWE ist eine Graswurzel-Bewegung – basiert aber auf einem (gewachsenen) und recht komplexen Organigramm. Ein paar Beispiele:
- es gibt verschiedene Arbeits-Gruppen (AGs), die sich bestimmte Aufgaben teilen. Dazu zählen z.B. “AG Vergesellschaftung”, “AG Aktion”, “AG Öffentlichkeit” etc.
- es gibt verschiedene Kiezteams, die jeweils für verschiedene Regionen der Stadt zuständig sind.
- im Kampagnenplenum (alle 2 Wochen am Di Abend, online) gibt es Berichte und werden alle wichtigen Entscheide gemeinsam getroffen.
- im Koordinations-Kreis nehmen 6 Personen aus den AGs und 6 Delegierte aus den Kiezteams und 4 Personen vom Gesamtplenum gewählt teil! Dieses findet wöchentlich am Di Abend statt, entweder 1 h vor dem Plenum oder sonst 2 h ohne Plenum)
- der Sammelrat stellte sich als sehr wichtig heraus; dies war der Ort, an dem Sammler*innen zusammenkommen und eigene Strategien und Formate entwickeln.
“Hätten wir doch bloss eine AG Finanzen gehabt, die finanzielle Entscheide vorbereitet. Das hätte uns viele lange Diskussionen im Plenum erspart…”
Aber halt – so ergeben sich doch Hierarchien?
Dies ist ein altbekanntes Thema – nur schon wer mehr Zeit für eine Sache aufwenden kann, hat automatisch mehr Kontakte, mehr Wissen, mehr Erfahrung, etc. … Die Bewegung DWE geht damit bewusst um.
- Kiez-Delegierte und Personen mit bestimmten Kompetenzen werden gewählt
- es gibt keinerlei Druckmittel von Kernaktiven gegenüber den anderen Mitgliedern der Bewegung
- Personen an den strategischen Posten haben sich eh auch gewechselt (z.B. gingen viele freiwillig von den strategischen AGs in die Kiezteams, weil das Engagement in diesen VIEL mehr Spass macht – s. unten)
- Leute, die koordinierende Aufgaben haben, waren oft auch mit recht mühsamen Aufgaben beschäftigt, die sie machen müssen; da muss es auch die Möglichkeit geben zu sagen “behelligt diese Personen nicht mit anderen Anliegen”.
“Ja, Hierarchien gibt es. Aber die Mitglieder der Bewegung sind nur aus ihrer Überzeugung heraus aktiv. Es gibt keinerlei Druckmittel.”
In den Kiezteams steppte der Bär.
Die Gruppen, in welchen sich Leute in ihrem eigenen Kiez trafen – dort machte es am meisten Spass.
“Oft reichte die Energie für Einzelpersonen nicht aus, um in einer strategischen AG und auch noch in einem Kiezteam aktiv zu sein. Es kam oft vor, dass Kernaktive von den AGs in die Kiezteams wechselten, weil es dort mehr Spass machte.”
Wie können Leute ausserhalb der Stadt mitmachen?
Dies war v.a. möglich wegen den vielen online Treffen. Ausserhalb von Berlin entstanden zwar keine eigenen Gruppen. Aber bei einer Social Media Kampagne machten diese mit, indem sie mit Plakaten vor die Wahrzeichen ihrer Stadt standen und ein Foto davon einschickten. Oder indem sie Unterschriften sammelten bei Zügen, die nach Berlin fuhren. Ebenso machten sie mit bei Telefon-Aktionen.
Welche Rolle spielten etablierte Organisationen in der Bewegung DWE?
Die Bewegung DWE wurde von Einzelpersonen getragen – organisierte Institutionen waren teils in Kooperationen verbunden.
Die Gewerkschaften waren etwas zögerlich – d.h. sie haben weniger beim Sammeln mitgeholfen. Aber sie halfen bei der Repräsentation, z.B. bei gemeinsamen Events und gemeinsamen Erklärungen. Eine Ausnahme war die Linkspartei, welche ihren Einsatz für die Bewegung für ihren Wahlkampf genutzt hat.
Universelle Tipps für die interne Kommunikation!
- Die Verbindungen zwischen den strategisch tätigen AGs und den lokal tätigen Kiezgruppen war wichtig (und nicht immer einfach). Gute Idee: Die AGs konnten zum Beispiel “Slots” reservieren bei den Kiezteams, um Anliegen vorzustellen. Weniger gut hat jedoch die Kommunikation von den Kiezteams hin zu den AGs funktioniert.
- gute Protokolle sind das A und O!
- ebenso follow-up Mails!
- und das Wichtigste muss schon IM Mail stehen, nicht erst im Anhang!
- die Kommunikationskanäle organisierten sich in einem Zwiebel-Prinzip
- Telegram für Kernaktive
- offener Mailverteiler: kommt man drauf, indem man ans Plenum kommt oder empfohlen wird; ist nicht moderiert, hat bis auf 2-3 Ausraster gut funktioniert (da wurde dann gesagt “bitte nicht so viele Mail”); Ziel ist KEINE Diskussion, nur Infos
- Newsletter funktionierte nicht so gut
- denkt an ein professionelles Kontaktverwaltungs-Tool, Datenablage, Mail-Verteiler, Backups, …
“Kontakte sind eure wichtigste Ressource. Verwaltet diese zentral und verwendet dazu ein professionelles Tool.”
Was ist wichtig bei der externen Kommunikation?
- Eine Kampagne ist immer ein Wettstreit um Deutungshoheit und Definition. Man muss ständig Argumente schärfen und die Argumente der anderen umdrehen, muss ständig Begriffe setzen oder umdeuten. (zB sollte nach der Abstimmung eine “Expertenkommission” gegründet werden, aber das klang ein bisschen nach Reden-statt-machen und nach Zeit-schinden. DWE wollte es lieber Enteignungskommission nennen.) In diesem Sinne kann es auch wichtig sein, rechtzeitig über sich selbst zu kommunizieren, bevor es die Gegner tun können.
- Eine Kampagne verkauft ein Problem (zB Mietenwahnsinn, von dem wir fast alle betroffen sind) und bietet gleichzeitig die Antwort darauf. Die Antwort muss so konkret wie möglich sein, also einen machbaren Plan haben, und gleichzeitig eine Vision verkaufen. Kommunizieren sollte man stets: Krise + Vision + klare Handlungsaufforderung.
- Eine Kampagne basiert auf der Betroffenheit der Menschen, es lohnt sich, diese Betroffenheit immer wieder anzusprechen und bei diversen Gruppen aufzuzeigen. Und dann immer im WIR sprechen, um auch die eigene Betroffenheit zu betonen: “Wir Mieter*innen….”
- Eine Kampagne hat klare Ziele und einen befristeten Zeitraum. Für die Mobilisierung ist das sehr wichtig, denn es ist einfacher, Gas zu geben, wenn mensch einen Endpunkt sieht.
Wie machen wir es mit Social Media?
(Siehe DWE-facebook, insta, twitter)
Die Social Media Strategie von DWE ist vierteilig:
- Community-Building! > Zweck: Wir-Gefühl & Motivation / Zielgruppe: Follower & Aktivist*innen
- Diskurs prägen! > Zweck: Argumente/Begriffe in die gesellschaftliche Debatte zu bringen / Zielgruppe: alle, besonders Journalist*innen und Meinungsträger*innen
- Reichweite! > Zweck: Bekanntheit & Aufmerksamkeit / Zielgruppe: diverse
- Mobilisieren! > Zweck: Neue Aktivist*innen gewinnen / Zielgruppe: Betroffene & Interessierte
Um die unterschiedlichen (sehr aktiven!) Social Media Kanäle gut an die Bewegung anzubinden, gab es zwei Chats:
- einen Chat für Artikel, Studien und ähnliches, wo alle spannendes Material posten konnten, zum Weiterverwenden für das Komm-Team
- einen Chat für Aktionen, wo Teilnehmende Fotos und anderes Komm-Material reinposten konnten, zum Weiterverwenden für das Komm-Team
Ein paar Tipps für mehr Reichweite:
- Inbound und Outbound kombinieren, also einerseits in den eigenen Posts andere Personen/Accounts markieren, andererseits bei Posts von anderen drunter kommentieren (und auch als Einzelpersonen bei den eigenen DWE-Posts drunter kommentieren, das generiert Traffic)
- >> Dazu kann man auch mit Kompliz*innen Absprachen treffen, sodass man sich gegenseitig teilt und kommentiert. Eine Hand wäscht die andere.
- Heilige Algorithmus-Regeln einhalten: Regelmässig füttern, nix editieren/löschen, und genug Zeit lassen zwischen den Posts
- Plattform-spezifisch unterschiedliche Sachen posten: Auf Twitter politische/inhaltliche Inhalte, auf Insta mehr in Richtung Lifestyle, freundlich und lustig, auf Facebook ältere Nutzer*innen ansprechen
- aktuelle Trends aufgreifen: Memes, Themen, Reels…
Wie gesagt: All dies sind nicht meine eigenen Ideen, sondern meine Notizen aus dem Workshop mit DWE. Das heisst aber auch, dass ich manches vielleicht falsch oder unvollständig wiedergebe…
>> Für mehr Tipps, die DWE selbst aufgeschrieben hat, empfehlen wir zB diese Broschüre: